Konzertbesucher

Ein Konzertbesucher erzählt:

Ungewohnte raue Klänge, allmählich näher kommend, der Vorhang teilt sich, gemessenen Schrittes betreten sechs Indianer aus dem Andenhochland Boliviens in ihrer traditionellen Kleidung die Bühne, über dem dunklen Pochen und Dröhnen der sechs großen Trommeln erhebt sich Musik der Flöten, und in langsamem Schreittanz ziehen die Männer ihre Figuren und Kreise umeinander: Musik und Tanz, wie sie zu Beginn jeder wichtigen Versammlung in den Dörfern des Altiplano die Teilnehmer in die rechte Verfassung des Geistes und des Herzens bringen sollen: „Mit Worten kann man lügen, mit der Musik aber nicht.“

Was soll uns diese Musik, die uns rau, manchmal düster und schwermütig in die verwöhnten Ohren dringt, die uns aber auch von unseren bequemen Sitzen zu reißen vermag, uns jubelnd und überwältigend in die Glieder fährt, dass wir am liebsten aufspringen und mittanzen möchten? Musik einer fremden Welt! Fragt man die Musiker: „Was wollt ihr damit in unseren Konzertsälen?“, so antworten sie: „Wenn ihr davon Albträume bekommen solltet, ist das nicht die Schuld unserer Musik. Sie ist nicht dazu da, euch mit exotischem Reiz eine Stunde lang Unterhaltung und Genuss zu bieten. Wie wir sie hier darbieten, ist sie eine Botschaft.“

Welche Botschaft? Wir Europäer, die wir ausgezogen sind, uns „die Erde untertan zu machen“ und darin die erstaunlichsten Erfolge feiern können – wir haben uns von den Bedrohungen und Unbilden der Natur fast unabhängig gemacht und hausen Sommers und Winters gleichermaßen vollklimatisiert in unseren Betonschachteln – wir merken allmählich, dass wir darüber die ursprüngliche Verbindung mit der Natur verloren haben. Eben diese Verbindung haben die Indios sich durch all die Jahrhunderte geistiger und geistlicher Kolonisation und brutalster Ausbeutung bewahrt, und davon kündet diese Musik, dahin führt sie immer wieder zurück. Einige – wenige – von uns vernehmen die Botschaft und sagen mit Rilke:

„Ich muss mein Leben ändern.“

Für die, denen die Musik zu bestürzend fremdartig ist, erzählen die RUPAY in einer Pause während ihres Konzerts eine Geschichte, die hier stark gekürzt wiedergegeben sei:

Jedes Jahr zu einer bestimmten Zeit wird in einem Dorf in den Anden ein Ritus vorbereitet. Einige besonders gewandte junge Männer ziehen aus, nachdem sie sich durch mehrtägiges Fasten auf ihre Aufgabe vorbereitet haben, oben in den Bergen einen Kondor zu fangen. Oft gelingt es ihnen nicht, und das bedeutet ganz viel für das Dorf und für die Menschen in diesem Dort. Wir wissen nicht, was es bedeutet. Im letzten Jahr aber ist es ihnen gelungen, den Kondor zu fangen, und sie haben ihn in ihr Dorf gebracht.

Inzwischen sind auch die Menschen dort nicht untätig gewesen. Junge Musiker sind hinausgegangen, einzeln – auf die Höhe eines Berges, an das Ufer des Flusses, zum nahen Wasserfall. Sie lauschten dem Murmeln der Wellen, dem Gesang des Windes, dem Tosen der herabstürzenden Wassermassen. Sie kamen zurück, um die Musik zu spielen, die sie den Wassern, den Winden und den Vögeln abgelauscht hatten. Andere haben die Musikinstrumente vorbereitet. Die Frauen haben aus dem, was die Ernte gebracht hat, aus Kartoffeln, Mais und Weizen leckere Speisen bereitet. Alle warten darauf, dass die jungen Männer aus den Bergen mit dem Kondor zurückkommen. Da, auf einmal schreit ein kleiner Junge ganz laut: „Sie kommen, sie kommen, und sie haben den Kondor!“

Der Kondor wird ins Dorf gebracht, in die Mitte des großen Dorfplatzes. Die Frauen tragen die Kochtöpfe herbei, und sie sagen zum Kondor: ‚Herr Kondor, bitte nimm von dem, was wir für dich bereitet haben.‘ Der Kondor ißt. Die Menschen essen auch. Dann sagt man zu ihm: ‚Herr Kondor, wir haben Instrumente gebaut. Wir wollen Musik machen und ein großes Fest für dich feiern.‘ Alle tanzen und feiern. Der Kondor ist immer dabei. Das Fest dauert zwei, drei, wohl auch vier Tage, bis alle erschöpft sind und schlafen müssen.

Zum Schluss tritt ein ganz alter Mann vor den Kondor hin und spricht zu ihm: ‚Herr Kondor, verzeih, dass wir dich gefangen haben, aber wir wissen, dass du es verstehst. Wenn du wieder auf deine weiten Reisen gehst, wenn du mit den Winden der Sonne entgegenfliegst, zum Regen und zum Donner sprichst, wenn du unsere Brüder und Schwestern, die Bäume, Pflanzen und Tiere triffst, wenn du die Berge und Flüsse und Seen besuchst: bitte erzähle ihnen von uns, von unseren Freuden und von unseren Schwierigkeiten.

Und wenn Du mit unserer Mutter, der Erde sprichst, grüß‘ auch sie von uns und sag ihr unseren Dank fürr alles, was sie uns gibt, und dass wir stets nur das Nötigste von ihr nehmen. Der alte Mann spricht noch lange mit dem Kondor, bis alle im Dorf in Schlaf gesunken sind. – Als sie alle an einem neuen Tag mit einer neuen Sonne wieder erwachen, ist der Kondor davongeflogen.

Mancher von uns hat, nachdem die Geschichte erzählt worden war, ein offeneres Ohr für die Musik bekommen, die die RUPHAY uns vorführten.

Boliviens legendäre Kultband